One Step Beyond. Link zur Sprachwahl-Seite

An der Frontlinie

An der Frontlinie

Mit Nijaz Memiç und Ci Handiç vom Landmine Impact Survey Team fahren wir nach Sirokaca, einem Viertel im Südosten von Sarajevo. Von hier aus läuft man gemütlich in 20 Minuten in die belebten Straßen des Basars. Wir halten am Rand einer schmalen Straße und steigen aus. Wir laufen zu dem Haus, dessen Bewohner befragt werden sollen.

Der ganze Garten ist von einer Mauer umgeben, Auf unser Klopfen öffnet ein älterer Mann das Tor. Die drei reden kurz miteinander, dann lässt er uns herein. Andreas und ich verstehen das dann folgende Gespräch nicht, sehen aber, wie Nijaz und Ci zunehmend bestürzter schauen.

Ci übersetzt uns, was der Mann berichtet: Durch diesen Garten verlief die Frontlinie zwischen den Serben, die Sarajevo belagerten und den Verteidigern der Stadt. Seine Frau, verunglückte am 5. Mai 1996, wenige Monate nach Ende des Krieges bei Aufräumarbeiten in diesem Garten auf einer Anti-Fahrzeug-Mine. Nein, nein! – Sie habe überlebt, allerdings schwer verletzt. Beide Beine habe sie verloren. Und einen Arm. Und die meisten Finger der noch übrigen linken Hand. Dabei war doch Frieden. Ein schöner Frühlingstag sei es gewesen und sie hätten kurz vorher erst begonnen, das zerstörte Haus wieder instand zu setzen.

Ruhig und freundlich erzählt er und deutet auf eine Stelle hinten im Garten, wo sich der Unfall ereignete.

Nijaz fragt den Mann, ob ich einige Fotos von Haus und Garten machen könne. Der Mann bespricht sich mit seiner Frau. Sie sitzt im Haus in einem dunklen Zimmer. Auf einem Stuhl hinter dem vergitterten Fenster zum Garten. Wir können sie kaum sehen, denn hinter den Gittern ist noch ein Mückennetz gespannt, das die Sicht behindert. "Ja! Ja!" antwortet sie. Sie selbst jedoch will nicht fotografiert werden.

Wir hören sie aus dem Dunkel ihres Zimmers und Nijaz übersetzt uns: Sie habe Zeitungen verkauft auf den Märkten in Sarajevo. Und sie habe beide Artillerieattacken unverletzt überlebt. Die erste auf dem Grünen Markt am 5. Mai 1994, bei der es allein 67 Tote gab. Und die zweite bei der Markthalle am 28. August 1995, bei der 43 Menschen getötet wurden. Im eigenen Garten sei sie auf eine Mine getreten. Diese Mine habe für sie dort gelegen. Sie sei ihr Schicksal gewesen.

Ci fragt die Frau, ob sie den Unfallort und -Hergang beschreiben will und sich nachher porträtieren lässt. "Oh nein", antwortet sie resolut, das gehe nicht. Sie habe damals nach dem Unfall so vielen ihre Geschichte erzählt. Journalisten und Mitarbeitern verschiedener Hilfsorganisationen. Und jeder habe ihr etwas versprochen. Nicht, dass sie darum gebeten habe, aber jeder habe ihr etwas versprochen: Kleidung, Geld, Nahrung, Prothesen. Dann seien sie alle gegangen und sie habe nie wieder etwas von ihnen gehört, sei wieder allein gewesen mit ihrer Geschichte. In der Zeitung habe man Fotos von ihr veröffentlicht, aus der Zeit im Krankenhaus und danach. Die Frau scheint dennoch nicht verbittert. Zu klar und frech, ist ihre Stimmer hinter den Gittern zu hören.

Ci setzt sich mit dem Mann an einen Tisch unter dem Fenster. Gemeinsam skizzieren sie eine Karte vom Haus und der näheren Umgebung und versuchen, zu rekonstruieren, wie die Situation zur Zeit des Krieges war: Die Frontlinie verlief direkt durch den Garten. Nördlich davon, den Hang hinauf befand sich eine Stellung der Serben. Gewohnt hat hier damals niemand, das wäre zu gefährlich gewesen. Alle Häuser waren verlassen. Ihr eigenes war noch nicht ganz fertig gebaut, das wurde erst nach dem Krieg gemacht. An dem Hang liegen vielleicht immer noch Minen und Blindgänger. Genauso wie in den Brachen auf der anderen Seite der Straße. Hier sei zwar geräumt worden, vier Jahre nach Asijas Unglück. Aber man wisse ja nie.

Ich fotografiere den Garten, in dem Asija verunglückte. Ein paar Apfelbäume voller reifer glänzender Äpfel. Darunter ein Tisch mit einem Gasbrenner, auf dem irgendetwas kocht. Viele Blumen. Alles saftig und grün und ein kleines Idyll. Im Hintergrund der Hang, der immer noch vermint sein könnte.