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Das Flüchtlingslager

Etwa 15 Kilometer westlich von Luena ist in den letzten Wochen ein neues Flüchtlingslager entstanden. Am Ende einer Straße, die erst vor kurzem von der Mine Advisory Group entmint worden war. Die Straße führt in ein kleines Dorf, das vor Jahren wegen der Minengefahr in der Umgebung verlassen wurde. Erst seit einigen Wochen sind wieder Bewohner zurückgekehrt und beginnen das Land in der Dorfumgebung zu bearbeiten. Das Flüchtlingslager ist auf der anderen Seite der Straße.

In einem etwa 50 x 100 Meter großen Areal leben zur Zeit etwa 300 Familien, das heißt ungefähr 1.500 Menschen. Der erste Eindruck ist ziemlich unspektakulär. Unter einem Flüchtlingslager habe ich mir immer etwas Gigantisches und Unüberschaubares vorgestellt. Hier fällt mir als erstes auf, dass ich das ganze Gebiet ohne Probleme überblicken kann. Die Höhe aller "Gebäude" ist sehr gering: keines überragt 1,20 m Höhe. Zwei oder drei Holzpflöcke, zwischen denen eine Kunststoffplane gespannt ist, sind die Überlebensbasis für eine Familie.

Wer also das Glück hatte, eine der Kunststoffplanen zu ergattern, die aus den letzten Vorräten der Lutheraner stammen, kann damit seine meist fünf- siebenköpfige Familie einigermaßen sicher vor der Hitze und den demnächst einsetzenden schweren Regenschauern schützen, mit denen hier der Winter beginnt. Weniger Erfolgreiche oder auch die vielen, die gerade angekommen sind, haben nicht einmal dieses Dach. Sie stapeln ihre Habseligkeiten, meist ein paar Töpfe und Decken und einige Kleidungsstücke, irgendwo am Rand einer der Pfade, die über das Gelände führen. Zur Zeit ist alles noch sehr trocken. Ich spüre den Staub auf meiner Haut, im Mund und in den Augen. Aber demnächst, nach den ersten Regenfällen wird das hier eine einzige Schlammfläche sein. Es gibt ein paar Feuerstellen. Bohnen kochen vor sich hin und irgendwelche für mich undefinierbaren Flüssigkeiten. Einige Frauen stoßen Maniok und Mais. Kinder rennen hinter dem beliebtesten Spielzeug her: einer Fahrradfelge, die sie mit einem Stöckchen vorantreiben. Überall Fliegen. Die Hygiene- und Gesundheitsbedingungen sind beunruhigend.

Unter einer Art Zelt, das aus grünem Stoff gebaut ist, sehe ich eine alte Frau liegen. Sie liegt auf der Seite, wendet mir ihren nackten Rücken zu. Eigentlich kann ich erst gar nicht erkennen, dass es eine Frau ist. Sie scheint viel zu mager für einen Menschen. Es sind nur noch ihre Knochen, über die sich ihre dunkle und pergamentdünne Haut spannt. Auf ihrer Hüfte erkenne ich Tätowierungen. Sie berichten wohl aus einer anderen Zeit ihres Lebens, als sie jünger war und vielleicht zuversichtlicher. Sie liegt da, als würde sie bald verhungern. Christovao, der mich über den Platz begleitet, ist ebenso berührt: "Sie wird sterben!", sagt er mir. Und wir wagen es kaum, sie zu betrachten.

Viele der Flüchtlinge scheinen Fieber zu haben, offene Wunden, Krankheiten der Atemwege. Überall wird gehustet. Hunger scheint jedoch das Hauptproblem zu sein. Das Flüchtlingslager wird erst in den nächsten Tagen vom Welternährungsprogramm mit Mais versorgt. Einige der Dorfbewohner bieten den ärmsten und kränksten unter den Flüchtlingen einen Platz an und tauschen Pilze und Gemüse gegen den wenigen Mais, der sie bei der Deportation verteilt wurde. Denn eigentlich sind alle diese Menschen keine Flüchtlinge: Das Lager und seine Bewohner ist eines der neuesten Symptome des Krieges der Regierung gegen den Guerillaführer Jonas Savimbi und seine Truppen, die UNITA. Er wird in der Gegend südlich von Luena vermutet, die weiterhin unter seiner Kontrolle ist. Darum werden die dortigen Bewohner per Hubschrauber aus ihren Dörfern deportiert. Sie dürfen kaum etwas mitnehmen, erhalten bei ihrer Ankunft in Luena eine Schale mit Mais und werden danach in eines dieser Flüchtlingslager gewiesen. Es sind mehr als hundert Leute, die so pro Tag nach Luena gebracht werden. Im November sind bis jetzt 4.000 Flüchtlinge eingetroffen.

Die Kämpfer der Guerilla schwimmen wie Fische im Fluss der Bevölkerung – "alte Guerillataktik". Also muss man den Fluss austrocknen, um die Kämpfer zu erwischen – "alte Taktik gegen Guerilla". Wir gehen herum auf diesem Platz. Sebatian und ich stimmen uns ab, dass ich einige Videoaufnahmen mache, um über diese neue Situation in Angola berichten zu können. Als ich mir abends das Material anschaue, sehe ich erst, wie verstört ich war. Das ist kein professionelles Material, wie es ein Journalist filmen würde, sondern eher ein paar ratlose Schnipsel, wie von einem Alien von einem anderen Planeten gemacht, das hier in Luena gelandet ist und in diesem Flüchtlingslager strandete. Wenn du wirklich berichten willst, was du erlebt hast, dann musst du alles schonungslos anstarren und weiterfilmen, so wie deine Augen alles anstarren. Die Kamera darf sich nicht verstecken. Du musst sie an dein Auge nehmen und weiterfilmen, ruhig, unverwandt, nicht wegblicken. Nur so kann die Kamera speichern, was du selbst siehst und was dir zu weh tut, als dass du diesen Blick wagst.

Ich habe auch etwas über Dimensionen gelernt an diesem Tag. Große, unübersichtliche Dimensionen machen einem immer Angst. Und was mir bisher über Flüchtlingslager bekannt war, ist, dass sie groß und unübersichtlich sind. Das aber ist nur eine Wahrheit. Sicher, es gibt diese gigantischen Flüchtlingslager, jetzt gerade vielleicht in Pakistan an der Grenze nach Afghanistan. Aber in jedem Fußballstadien, an einem Bundesligasamstag, wirst du mehr Menschen auf engerem Platz finden als in den meisten, selbst den ganz großen Flüchtlingslagern. Vielleicht hilft dieser Vergleich, diese abstrakte Dimension etwas begreifbarer zu machen. Es ist leichter, von dort aus zu denken und zu handeln als schon vor den nackten Zahlen aufzugeben: "es gibt keine Hilfe".

Die Menschen in den Flüchtlingslagern sterben weiterhin, sie haben weiterhin Hunger, das Land mussten sie weiterhin aufgeben, ihre Familien wurden auseinandergerissen, sie haben ihre Verwandten verloren. Es gibt tatsächlich diesen Krieg, der das hier verursachte. Aber indem ich die tatsächlichen Größe erfahren habe, kann ich mich in eine Verhältnis zu den Umständen bringen und erhalte die Möglichkeit der Wahl und einer Entscheidung. Wenn du dich einlassen willst auf das Geschilderte, dann stell dir doch einfach den Schulhof vor, auf dem du als Kind jahrelang gespielt hast. Das Flüchtlingslager hier ist nicht größer.